"Safety Risk - Don't buy", lautete das vernichtende Urteil des amerikanischen Verbraucherportals "Consumer Reports" im April 2010 nach dem Test des Lexus GX460. Die Tester waren mit dem Bruder des Land Cruiser J15 in einem Höllentempo um die Kurve gesemmelt und, hoppla!, hatten mit einem ausbrechenden Heck zu kämpfen. Das waren sie wohl von amerikanischen Geländewagen - bekanntermaßen wahre Wunder der Fahrstabilität - nicht gewohnt.
Jeremy Clarkson von Top Gear merkte dazu folgendes an: "On Top Gear, we call a car which does this 'fun'." Nun ist Jeremy Clarkson aber auch Brite, und der Brite an sich neigt ja nicht gerade zur Hysterie. Man stellt sich förmlich vor, wie er nach dem Überschlag beklagt, dass der Martini verschüttet wurde.
Sicher: "Fun" ist das nur für denjenigen, der die Situation beherrscht. Und das ist bekanntermaßen eher die Minderheit der Autofahrer. Und der Rest? Ich stelle mal die gewagte These in den Raum, dass der Rest einfach nach alter Väter Sitte "angepasst" fahren sollte. Dass er, bitteschön, nicht wie ein komplett Hirnloser in die Kurve kachelt. Weil das nämlich eventuell schiefgehen könnte.
Aber vielleicht gehe ich mit dieser Forderung auch zu weit.
Denn wir erwarten mittlerweile tatsächlich, dass "man" auch das für uns regelt. Dass das Fahrzeug uns einbremst, warnt, im Fall der Fälle rettet, auch wenn wir es völlig übertreiben. Natürlich unwissend übertreiben, weil wir uns "vorher" nur selten wirklich Gedanken machen. Das war schon immer so, das wird nie anders sein: Der Mensch denkt nunmal nicht für fünf Pfennig nach, bevor er etwas tut. Nur: Wenn's dann schief geht, fiel das früher in die Kategorie "wieder was gelernt". Heute ist es ein Fall für den Staatsanwalt.
Wir wollen das Leben mit Vollkasko, die Technik wird's schon richten. Im Fall des GX hätte die Antischlupfregelung früher ansprechen sollen, meinten die Tester. Ich habe das bei meinen Probefahrten in dieser Form zwar nicht empfunden, aber das muss nichts heißen. Ich habe es auch nicht wirklich darauf ankommen lassen.
Wenn ein Fahrzeug diese Tendenzen zeigt, kann man das natürlich bemängeln. Eine öffentliche Warnung "kaufen Sie dieses Fahrzeug nicht, es besteht Lebensgefahr" ist allerdings eine ziemlich schamlose Übertreibung. Toyota hat dennoch sofort (und aufgrund der zurückliegenden Diskussionen auch deutlich überstürzt) reagiert und einen Verkaufsstopp veranlasst. Der GX wurde überprüft und softwareseitig entschärft, sodass die Helferlein nun früher ansprechen.
Und was wurde damit erreicht? Die Grenzen des Fahrzeugs wurden noch ein Stückchen hinausgeschoben. Und irgendwann ist der Punkt erreicht, an dem der Fahrer keine warnenden Signale mehr erhält. An dem das Heck nicht mehr einfach nur wegrutscht, sondern die Kiste unvermittelt gnadenlos abfliegt. Irgendjemand wird diesen Punkt auch erreichen, da mache ich mir überhaupt keine Sorgen - weil er sich auf die scheinbar alles regelnde Technik verlässt.
Damit wir uns richtig verstehen: Sicherheitseinrichtungen wie Airbag, ABS, ESP, Spurassistenzsysteme, Abstandsradar sind einmalige Errungenschaften. Sie retten Leben. Und sie funktionieren erstaunlich gut und unauffällig mittlerweile. Aber sie führen eben auch dazu, dass wir uns mehr und mehr auf sie verlassen und dabei jegliche Eigenverantwortung fahren lassen.
Das ist beileibe keine Neuigkeit, ich weiß. Wir verlassen uns gerne darauf, dass jemand anderes die Konsequenzen unseres Handelns abmildert. Das ist zwar menschlich, aber nicht immer gesund. Und es ist außerordentlich bequem: Denken ist kompliziert, Entscheidungen kosten Energie. Und Sicherheit gibt es nie wirklich, deshalb ist die ganze Sache mit der Eigenverantwortung ja gerade so doof. Dann lieber darauf spekulieren, dass das jemand anderes (oder ersatzweise irgendeine Norm oder Vorschrift) für uns übernimmt. Dann hat man hinterher wenigstens jemanden, dem man die Schuld geben kann. Denn Schuld übernimmt der Mensch an sich ja auch eher ungern. Und nichts ist geeigneter, dem Menschen die Gewissheit um seine kleine, fragile Existenz ein wenig zu erleichtern, als eine "höhere Macht", gegen die er sowieso keine Chance hat.
Am Flughafen Frankfurt sammelten sich während des Islandvulkanausbruchaschenflugverbots mehrere Dutzend Franzosen vor dem Lufthansa-Schalter, demonstrierten mit selbstgemalten Schildern ("Wir wollen nach Hause") und beklagten Lautstark, dass sie während der vergangenen Tage auf dem Boden campieren mussten und noch nicht einmal Wasser bekommen hätten. Gehen wir kurz in uns: Der so ziemlich am weitesten von Frankfurt entfernte Flughafen in Frankreich dürfte Biarritz sein. Das sind 12 Stunden Autofahrt. Stattdessen auf dem Flughafen zu übernachten ist quasi, als würde man bei Stromausfall stundenlang auf der Rolltreppe stehen bleiben. Aber es ist eben mitunter bequemer als Eigeninitiative.
Dieser unerschütterliche Glaube daran, dass es immer jemanden gibt, der einem aus der Patsche hilft, führt mitunter zu unendlich tragischen Situationen. Er ließ jenen Familienvater, dessen vollbesetzter Prius mit hängendem Gaspedal über den Highway raste, nicht etwa bremsen, nicht den Motor ausschalten, nicht in den Leerlauf schalten, sondern stattdessen den Notruf wählen. Auf dem Mitschnitt sind Schreie zu hören, dann bricht das Gespräch ab. In diesem Moment starben vier Menschen.
Wir haben verlernt, Verantwortung für uns selbst zu übernehmen. Wir trauen unseren eigenen Erfahrungen nicht mehr. Und mehr noch: Wir hören auf, eigene Erfahrungen machen zu wollen. Weil das Ergebnis so ungewiss ist. Wir wollen das volle Leben, aber bitte mit Vollkasko.
Manch einen dieser Vollkasko-Jünger sollte man buchstäblich in die Wüste schicken: Es gibt kaum einen tiefgreifenderen, beeindruckenderen, die Grundfesten der Existenz berührenden Moment als mitten im Nichts zu stehen und sich dessen so richtig bewusst zu werden. Man steht da und sieht: Nichts. Man hört: Nichts. Man spürt die Einsamkeit, die Leere, die Stille. Es drückt einen körperlich nieder. Es ist absolut erschütternd. In diesem Moment begreift man: "Jetzt kommt es nur auf Dich selbst an. Du trägst die Verantwortung für Dein Leben. Du allein. Egal, was jetzt passiert, ob Du Deine Sache gut machst oder schlecht, ob Technik oder Natur Dir reinpfuschen - es gibt niemanden, dem Du dafür die Schuld geben kannst. Du bist da reingefahren, also fahr auch wieder raus. Und mach es verdammt nochmal richtig, sonst hast Du ein Problem."
Vielleicht sollte man das zum Pflichtprogramm machen. Aber bitte mit Reiseleitung und klimatisiertem Bus.
In diesem Sinne wünsche ich Euch eine entspannte Woche mit vielen nützlichen Erfahrungen!
Euer Netzmeister